Rechtserkenntnis und Wertung

I. Die theoretischen Grundlagen einer wertungsbewussten Rechtswissenschaft

Hier geht es zunächst um die Notwendigkeit, aber auch die wissenschaftstheoretische Möglichkeit einer wertungsbewussten Jurisprudenz (1.), darauf aufbauend dann um deren rechtstheoretische Grundlagen (2.).

1. Zur Notwendigkeit und Möglichkeit einer wertungsbewussten Rechtswissenschaft

Erläuterung:

a) Die Rechtswissenschaft wird meist nicht als wertende oder Wertungswissenschaft aufgefasst, sondern vielmehr als eine wertungspassive „Normwissenschaft“, deren Aufgabe sich darauf beschränke, das positive Recht zu analysieren und zu beschreiben. Die Auffassung von der Rechtswissenschaft als einer analytischen oder deskriptiven Normwissenschaft ist das Ergebnis einer philosophiehistorischen Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, die insbesondere im Neukantianismus zu der bis heute vorherrschenden Überzeugung führte, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nur als empirische Aussagen über die Wirklichkeit möglich sind. Dementsprechend blieben die normativen Erkenntnisse der Rechtswissenschaft nunmehr auf deskriptive Aussagen über das empirisch vorgegebene Recht beschränkt, mithin auf die Auslegung des positiven Rechts. Wertungen waren damit aus dem Kreis der wissenschaftlichen Erkenntnisse ausgeschlossen, was unter anderem dazu führte, dass sowohl Kritik am positiven Recht, als auch die Forderung nach alternativen Rechtsinhalten einer (wertenden) Rechtspolitik zugeordnet werden kann, mit der die Rechtswissenschaft wenig bis gar nichts zu tun haben wollte und will. So verbreitet die Überzeugung von der Jurisprudenz als einer wertungspassiven Normwissenschaft auch ist, so erweist sie sich bei näherer Überprüfung als unhaltbar (dazu Jens Eisfeld, Rechtswissenschaft und Verantwortung, in: 160². Wissenschaftsmagazin des Liechtenstein-Instituts, der Universität Liechtenstein und der Privaten Universität im Fürstentum Liechtenstein [UFL], 2021, S. 66–69; Jens Eisfeld, Rechtsphilosophie und Theoriebildung im Zivilrecht, in: Jens Eisfeld u.a. [Hrsg.], Zivilrechtswissenschaft. Bausteine für eine Zivilrechtstheorie, Tübingen 2024, S. 85–136). Daraus folgt die Notwendigkeit einer wertungsbewussten Rechtswissenschaft.

b) Eine wertungsbewusste Rechtswissenschaft muss zunächst die Frage nach ihren wissenschaftstheoretischen Grundlagen beantworten. Sie hat, mit anderen Worten, ein sicheres erkenntnistheoretisches Fundament aufzuweisen, das die Möglichkeit wissenschaftlichen Wertens und damit auch die Möglichkeit einer wertungsbewussten Rechtswissenschaft aufzeigt. Es geht hier um die Voraussetzungen, unter denen Werturteilen Erkenntnischarakter zuzusprechen ist, unter denen sie also den begründeten Anspruch auf objektive Wahrheit und damit objektive Gültigkeit erheben können. Wichtige Vorarbeiten dazu finden sich vor allem in den (rechts-)philosophischen Werken Immanuel Kants (1724–1804) und Leonard Nelsons (1882–1927).

2. Die rechtstheoretischen Grundlagen einer wertungsbewussten Rechtswissenschaft

Erläuterung:

a) Die rechtstheoretischen Grundlagen einer wertungsbewussten Rechtswissenschaft sind für die weitere Profilbildung des Instituts insofern von zentraler Bedeutung, als sie die gemeinsame Ausgangsposition aller weiteren Schwerpunktsetzungen bilden. Sie beruhen auf einer Erkenntnistheorie wissenschaftlichen Wertens (oben 1. b) und ermöglichen die Ableitung normativer Kriterien, anhand derer sich die Legitimität (die objektive Gültigkeit oder Verbindlichkeit) des positiven Rechts beurteilen lässt. Bei diesen normativen Kriterien oder Rechtsprinzipien handelt es sich um wissenschaftliche Werturteile, die ihre letzte Begründung im sogenannten Rechtsgrund finden, dem Legitimationsgrund aller normativen Aussagen, die von der Staatsmacht formuliert und durchgesetzt werden. Dieser Rechtsgrund ist nicht etwa, wie meist behauptet wird, die Staatsmacht selbst oder die faktische Anerkennung des Rechts durch die Bevölkerung («Anerkennungstheorie»), sondern das ungeschriebene Rechtsprinzip der Menschenwürde, das jedem Menschen das gleiche Recht auf Ausbildung seiner Persönlichkeit, auf Verwirklichung seiner wesensentsprechenden Möglichkeiten gibt (dazu Leonard Nelson, Kritik der praktischen Vernunft [2. Aufl., Fürth 1972]; Hans Wagner, Die Würde des Menschen [2. Aufl., Paderborn 2014]; kritisch zur – auch heute noch – herrschenden Rechtsgrundlehre Leonard Nelson, Die Rechtswissenschaft ohne Recht [Leipzig 1917]).

b) Der Vorwurf, dass die Rechtsordnung damit auf eine Prinzipienlehre gestützt werde, die das positive Recht unsicher mache oder es gar aushöhle, ist zurückzuweisen. Das Besondere an der hier geforderten Prinzipientheorie besteht nicht darin, dass überhaupt Rechtsprinzipien formuliert werden, sondern vielmehr in deren Begründung: Die Anwendung des Gesetzesrechts ist ohne eine Vielzahl ungeschriebener Rechtsprinzipien gar nicht möglich, die jedoch in der herrschenden Rechtstheorie nicht, wie hier, als aktive Wertentscheidungen der Rechtswissenschaft aufgefasst werden, sondern vielmehr als wertungspassive Entdeckungen der Rechtswissenschaft im positiven Recht. Tatsächlich handelt es sich bei diesen angeblichen Entdeckungen aber regelmässig um verdeckte Eigenwertungen, also um Werturteile des Rechtsanwenders selbst, die dem positiven Recht untergeschoben werden. Dagegen zeichnet sich eine begründungsehrliche Rechtswissenschaft dadurch aus, dass sie die normativen Kriterien, anhand derer sie das positive Recht beurteilt, als ihre eigenen Werturteile identifiziert. Dementsprechend müssen die rechtlichen Aussagen einer wertungsbewussten Rechtswissenschaft mit dem positiven Recht auch nicht übereinstimmen; vielmehr versteht sich diese – im Hinblick auf das positive Recht – nicht zuletzt auch als kritische Rechtswissenschaft (dazu insbesondere hier II.).

c) Der Rechtsgrund liegt der gesamten Rechtsordnung zugrunde und bildet daher deren systematischen Ausgangspunkt. Da unter «Rechtswissenschaft» (wenn man von den Grundlagenfächern einmal absieht) die Gesamtheit aller systematischen und daher begründeten Aussagen über den Inhalt des Rechts zu verstehen ist, bildet der Rechtsgrund auch den letzten Legitimationsgrund dieser rechtswissenschaftlichen Aussagen. Der Rechtsgrund und die daraus ableitbaren normativen Kriterien oder Rechtsprinzipien dienen somit der Rechtswissenschaft insgesamt dazu, wissenschaftliche, also begründete Aussagen über den Inhalt des Rechts zu machen.

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Leitung des Instituts für Liechtensteinisches Recht und Rechtstheorie (ILRR)

Prof. Dr. iur. Jens Eisfeld
Institutsleitung 

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